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Schwäbische Zeitung vom 14.05.2023

Kultur leben

2013 rekonstruierte die österreichische Dokumentarfilmerin Maria Blumencron eine sehr alte Geschichte. Sie beginnt, als Jesus eine für seine Zeit sensationelle Vision hatte - nämlich die, dass alle Menschen gleich wären. Und so folgten ihm auch mutige, rhetorisch talentierte Frauen, um seine religiöse und soziale Botschaft zu verbreiten. Blumencrons Erkenntnisse sind in der kritischen Theologie-Geschichte nicht neu, aber immer wieder verfälscht, missbraucht, oder gleich ganz gestrichen worden. „Das Erbe frühchristlicher Pionierinnen“, schreibt Maria Blumencron, sei verdrängt worden von einer Kirche, „die durchweg von Männern regiert wird“. Der Titel ihrer Film-Dokumentation, „Jesus und die verschwundenen Frauen“, darf nun für die Ausstellung von vier regionalen Künstlerinnen in der Kirche St. Jodok benutzt werden.

Frauen befreien sich aus Formen der Enge, aus körperlicher Eingezwängtheit, sie brechen auf, sie brechen aus, eine mit einem Papier in der Hand - ein Pamphlet? In einer Ecke von Alexandra Gebharts Bildern ist die Macht angedeutet, die alleinige Wahrheit - Männer mit ihren zynischen Heilsgesten. Die Frauen von Sabine Braisch wirken wie Ikonen von Melancholie, von Nicht-Beachtung, auch von Missbrauch gleich welcher Art. Sie sind in sich gewandt, sie blicken über ihre Realität hinaus, in eine imaginäre Ferne, in der sie sich selbst wiederfänden - oder jene „frohe Botschaft“ im Prunk barockaler Kirchenräume, die immer mit männlichen Ornamenten gefüllt wurden? Beeindruckend schmerzliche Bilder.

Schmerzlich und zugleich befreiend die Arbeiten von Heidrun Becker. Ihre Frauenkörper sind wie Hilfeschreie, wie figurative Traumata; die Arme verschränkt, an einem Seil sich in die Freiheit ziehend, über den nackten Oberkörpern ist kein Raum für Gesichter. Entstellte Körper, als Symbole einer männlich entstellten Historie. Anders gesagt: einer männlichen Geschichte voll verschwundener weiblicher Geschichten.

Am radikalsten setzt Alicja Kosmider-Feist das Thema künstlerisch um. Kein Realismus, sondern abstrahierte Figuren wie Legopuppen. Statt Köpfen Tongefäße, die meisten mit Rissen, in die die männlichen kirchlichen Doktrine abgefüllt werden. Wo ein Mund hingehörte, deutet ein X an: „Du hast nichts zu sagen.“ Eine dieser Puppen in eine Art schwarzes Priestergewand eingeschnürt. Alicja Kosmider reduziert auf einigen Bildern Frauen auf ein Dekor, das Leichtigkeit assoziiert: T-Shirts. Doch sie tragen Schriftzüge. „Wunde und Wunder“ steht auf einem. „Ich lass mich doch nicht zu einem Nichts machen“ auf einem anderen. Sie kennt, sagt sie, das Thema über den polnischen Katholizismus sehr gut, denn sie ist in Polen aufgewachsen, besuchte das Krakauer Kunstgymnasium und die Kunstakademie, bevor sie nach Deutschland zog. Dort hat sie in Schwäbisch Gmünd Visuelle Kommunikation studiert.

„Das antiquierte Frauenbild der katholischen Kirche hat eine lange Tradition und reale Auswirkungen auf unsere Gesellschaft“, schreibt sie im Flyer zu dieser beeindruckenden, emotional wie künstlerisch zutiefst bewegenden Ausstellung. Für die vier Künstlerinnen sind ihre Arbeiten in bewundernswerter Offenheit ein sehr persönliches Anliegen. 








The watercolour does not have an easy life. The reason is simple. The watercolour is a woman. What is even worse, she is a delicate and beautiful woman so very few people accept the thought that she can be something more than a trifle.
The palette of flat, colourful eyelets resembles the set of eye shadows, and everyone who has gone through Polish school associates it mainly with pre- and early school education. For those well acquainted with the Victorian romances the watercolour is a kind of knitting, an activity of the maidens from the upper classes, a way to kill the time while waiting for the future husband. In one word, or rather in two: watercolour – bagatelle, whereas in fact it is the most difficult painting technique. What is more, although it was already known in ancient Egypt, the process of discovering the fullness of the possibilities it opens to the artist had not started until the 20th century. Even for Albrecht Dürer {all due respect for his famous Hare ) it was an illustrative technique. The exception is his little work - a recording of a nightmare. The divine punishment. The second flood. Torrents of water strike the ground with great force forming something in the shape of an atomic mushroom cloud. Düpainted it with haste, out of terror, perhaps having forgotten for a moment that he was a man and should not let the emotions rule over the reason. Thanks to his sleeping problems Düexposed the essence of the watercolour for the first time. The watercolour is the emotion. It is a spot, a puddle, an element and you have to know how to control it. The substance and the structure of the paper, the type of a brush, the length and thickness of the bristles, the extent to which they are worn off; the ratio between the amount of water taken and the pigment; the force and the angle of the strike – all this needs to be sensed with perfection as it cannot be measured. When you paint a watercolour corrections are impossible. Each strike of a brush is final. Alicja Kośmider-Feist knows that, what is more, she controls it perfectly. Technically her works are light, emotional, they seem to have been created without any effort, intuitively and with great instinct, almost empathy for the matter. They are beautiful but dangerous at the same time. Like insectivorous flowers, like les fleurs du mal, because the narrative in them describes real adventures of Alice in Wonderland . We descend the rabbit hole, driven by curiosity, we drink "drink me", eat "me", and with every moment things are becoming more and more interesting, and more and more dangerous. We swim through the pool of tears, we swim through the pool of blood. We participate in the Caucus-Race, we dance quadrilles with the lobsters. We listen to the story of the Mock Turtle, having yet another snack mushroom. There is more than one March Hare, more than one round body of Humpty Dumpty, the fluctuation of the pigment turns into the fluctuation of fat bodies. The bodies of Women-Mothers on whose exuberance pink bodies of the infants feast. The pinkness of their delicate skin blends with the pinkness of the pork livestock. Next to the forest fauna we have an entire butcher shop. It also has this fairy tale quality, this time however, definitely from Fairy Tales for Naughty Children and Their Caring Parentsby Dusan Taragel. Quarter carcasses and half carcasses. Chop, pork neck, shoulder, fillet. Sometimes there are no arms, sometimes there are too many hooves. A little head, sometimes pork snout, sometimes rabbit'mouth. Alicja Kośmider-Feist tells a story of a very mature and very naughty Alice. Her watercolours are like the reports of a secret police section for special operations written by an experienced calligrapher in iambic tetrametre.
curator: Elżbieta Bela
space design: Rafał Bartkowicz
text: Iwo Ohrenstein



Ausstellungseröffnung GETRAGEN von Alicja Kosmider-Feist
Vernissage in der LINSE am 15.11.2014 um 16.30 Uhr | Rede: Andrea Dreher


Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Alicja,
GETRAGEN, so der Titel dieser Ausstellung, getragen haben wir schon viele
Kleidungsstücke, manche mit Leidenschaft und Freude und manche, weil wir es z.B. als Kinder oder aus gesellschaftlichen Anlässen mussten.
Es ist eine Errungenschaft der Pop-Art-Künstler, die vor gut 50 Jahren damit begannen, den Menschen symbolisch durch die isolierte Darstellung von Gegenständen zu ersetzen. Thema jener Künstler war der schnöde Alltag, das Populäre, das „Normale“, was sie als Motive in die Kunst transportierten und wodurch ihre Kunst zum Lifestyle avancierte, in der sie den akademischen Überbau ablehnten und das Leben in den Mittelpunkt stellten. Vorher kamen isolierte Gegenstände allenfalls im Stillleben vor, denn Kunst war Jahrhunderte lang
Repräsentation, Macht und ein Werkzeug der Kirchen und entsprechend eng mit
menschlichen, göttlichen oder allegorischen Darstellungen verbunden.
Die Kunst der Pop-Art schöpfte also aus Motiven des Alltags als Inspirationsquelle, was zur Folge hatte, dass diese Bilder mit ihren monumentalisierten Alltagsmotiven schnell den Einzug in die Galerien und Museen schafften und noch heute wie Statussymbole einer Welt des blinden Konsums und des Fortschritts gehandelt werden. Natürlich eröffnete dieser Befreiungsprozess auch die immer lauter werdende Diskussion „was denn Kunst sei“. Vielleicht muss man diese Diskussion inzwischen stärker auf die kunstschaffenden
Menschen beziehen und fragen, was es denn für Menschen sind, die Kunst machen, wohl wissend, dass diese immer eine gesellschaftliche Randerscheinung darstellen und leider viel zu oft das Bild vom „brotlosen Künstler“ abgeben.
Was ist der Grund, dass ein Mensch trotz vieler Widerstände regelmäßig zum Stift, Pinsel, Stechbeitel usw. greift, um damit Kunst entstehen zu lassen?
Warum stehen wir beispielsweise hier, um die Bilder von Alicja Kosmider-Feist anzusehen und warum hat sie diese und zwar genau diese Bilder gemalt?
Künstler sind Menschen, die den Drang in sich spüren, Lebensprozesse oder gedankliche Reifeprozesse in Material zu übersetzen. Wer Kunst macht, will dem Leben eine weitere Ebene zuordnen, will offene Prozesse darstellen und neue Fragen aufwerfen und will in aller Regel auch neue Sichtweisen und Horizonte eröffnen. So ist es auch bei Alicja Kosmider-Feist. Seit ihrer Zeit am Krakauer Kunstgymnasium und auch während ihres Studiums der Visuellen Kommunikation in Schwäbisch Gmünd malte und zeichnete sie. In ihrem Atelier in Berg hängt noch eine Aktzeichnung aus alten Zeiten. Diese zeigt eine füllige Frau und Alicjas Kommentar dazu lautete: „wir liebten sie, sie hatte so viel Körper“.
Der Körper ist das Thema, das die Malerin schon lange fasziniert. So sehen wir unter Anderem 10 kleinformatige Aquarelle aus den Jahren 2010/11 ausgestellt, in denen Körper bereits motivisch im Mittelpunkt standen. Damals setzte die Malerin allerdings einen
Schwerpunkt auf die Groteske, für deren malerische Umsetzung die spontane
Aquarelltechnik geradezu ideal ist. Den thematischen Mittelpunkt dieser Ausstellung bilden jedoch Bilder in Acryl- und Ölmalerei, auf denen, vom menschlichen Körper losgelöste, getragene oder abgelegte Kleidungsstücke zu sehen sind. Kleidung ist der Gegenstand, hinter dem wir unseren Körper verstecken, womit wir unsere Figur betonen und wofür wir auch viel Lob und Kritik ernten
können. Kleidung verbindet und Kleidung grenzt aus. Kleidung ist viel mehr als Stoff, sie ist eine Chiffre für uns Menschen; für die wohlhabenden, die ihre Schränke damit füllen und regelmäßig aussortieren und für die Ärmeren und Armen,
die vom Überfluss der Reichen und von unseren Kleiderspenden über-leben.
Das Thema Kleidung provoziert im Übrigen sehr subjektive und synästhetische
Wahrnehmungen, denn wir können Kleidung anschauen, wir können sie tragen, wir können sie fühlen und wir können sie riechen. Insbesondere in der getragenen Kleidung steckt der Geruch eines Menschen, was bedeutet, dass im getragenen Kleidungsstück eine Imagination vom Körper gespeichert bleibt. Nicht umsonst spielt Kleidung auch im Fetischbereich eine wichtige Rolle, denn die Phantasien, die Kleidungsstücke erzeugen, wiegen schwer. Das Thema der getragenen Kleidung spielt im Leben der Künstlerin auch insofern eine zentrale Rolle, weil Alicja Kosmider-Feist regelmäßig mit Kleiderspenden aus ihrem deutschen Freundeskreis ihre auf dem Lande lebende polnische Verwandtschaft und deren Freunde beschenkt. Sie bringt den Menschen auf dem polnischen Land den Stoff, aus dem deren Träume sind. So kommt es auch vor, dass eine polnische Bäuerin beim nächsten
Besuch ein Kleid der Künstlerin trägt, welches diese ihrem Körper entsprechend umgenäht und angepasst hat. Das Kleid wechselt den Körper, es liefert neue Bilder in einem anderen Kontext und doch verbindet es zwei Menschen über deren emotionalen Zugang zum Stoff. „Kunst muss ehrlich sein, sonst ist sie verloren“, sagte mir Alicja Kosmider-Feist in ihrem Atelier, denn sie will mit ihrer Kunst bei uns Betrachtern Gefühle auslösen. Wenn die Kleidungsstücke in den Bildern schweben oder an imaginären Bügeln zu hängen scheinen, wie z.B. das rote Kleid auf der Einladungskarte, so gibt diese Art der Darstellung ihnen einen starken Objektcharakter. In diesen Darstellungen werden gewöhnliche Kleidungsstücke zu Unikaten, sie werden zu bildtragenden Elementen und zu Portraits ihrer selbst. Nicht im Entferntesten denken wir noch an das Kleid als Verkaufsware, sondern die
Kleidungsstücke in den Bildern von Alicja Kosmider-Feist sind Bildzitate der Schönheit, des Sommers, der Kindheit, der Jugend usw. „Manchmal brauche ich Stunden, um den Pinsel in die Hand zu nehmen“, erzählte mir die
Künstlerin, denn Malerei erfordert nicht nur Zeit, sondern verlangt auch nach absoluter Konzentration. Diese Konzentration gepaart mit Professionalität bestimmt zu Beginn des Malaktes die Auswahl des Bildausschnitts, denn hierin fokussiert die Malerin unseren Betrachterstandpunkt. Je kleiner oder heran gezoomter die Motive erscheinen, desto abstrakter nehmen wir sie wahr. Durch diese künstlerisch verschobene Wirklichkeit sehen wir extrem verkleinerte oder deutlich vergrößerte Kleidungsstücke, die meist nur in Ausschnitten und von den Bildrändern angeschnitten sind. Ursprünglich kommt Alicja Kosmider-Feist von der Zeichnung, was bedeutet, dass sie sehr linear und räumlich denkt. Bei ihren Bildern, Zeichnungen und Aquarellen stehen daher nicht die Farben und Farbkontraste im Fokus, sondern ihre Kunstwerke sind im Wesentlichen
Licht-Schatten-Kompositionen. Licht und Schatten kommen bei Stoffen insbesondere im Faltenwurf zum Tragen. Der Faltenwurf ist seit der Antike und über sämtliche Jahrhunderte hinweg bis in die Moderne ein großes Thema der Kunstgeschichte. In der Gotik gab es beispielsweise eine Vielzahl von Faltenstilen, so dass die Künstler regelrechte Konkurrenzkämpfe ausfochten um die perfekte Draperie des Mantels der Gottesmutter Maria.
Der Schweizer Theologe und Aufklärer Johann Georg Sulzer verfasste im 18. Jahrhundert die erste deutschsprachige Enzyklopädie der Schönen Künste und behandelte darin selbstverständlich auch das Thema der Falten bzw. des Faltenwurfs. So schrieb er: „So zufällig die Kleider selbst und Falten derselben, besonders für den Menschen sind, so wesentlich sind die Falten der Gewänder in den Gemälden, zur Annehmlichkeit, Schönheit und zur Harmonie des Ganzen. Die Kunst, die Gewänder in gute Falten zu legen, ist wirklich ein richtiger, zugleich aber schwerer Teil der zeichnenden Künste, vornehmlich aber der Malerei. […] Jedermann fühlt, dass in einem Gewand die Falten so widersinnig, so seltsam
und verworren sein können, dass das Auge dadurch verwirrt und von vielen wichtigen Gegenständen abgezogen wird. Dazu kann denn noch eine ebenso seltsame Verwirrung des Hellen und Dunkeln und der Farben kommen, indem das hervorstehende in den Falten hell, das eingebogene dunkel wird; jeder Teil des Gewandes aber, nachdem er mehr oder weniger aus- oder eingebogen ist, eine andere Farbe bekommet.“ Wenn man mit Sulzers Gedanken „vom verwirrten Auge und von der Ablenkung wichtiger Gegenstände“ die 250 Jahre später entstandenen Bilder von Alicja Kosmider-Feist betrachtet, wird einem erst bewusst, dass das Thema dieser Ausstellung uralte kunsttheoretische und praktische Erwägungen aufgreift, die von zeitloser Gültigkeit sind. Dieser konservative Ansatz (konservativ im Sinne vom lat. conservare = bewahren, retten, erhalten) in der Motivwahl bringt als inhaltliche Ebene die Vergänglichkeit ins Spiel. Denn diese „getragenen“ Kleidungsstücke führen uns zurück zu den Menschen, die längere oder kürzere Zeiträume mit diesen Kleidungsstücken lebten, diese trugen und die mit ihnen
Gedanken und Erinnerungen verbanden. Was von allem bleibt, ist das Bild, und in ihm zeigt die Künstlerin eine Momentaufnahme ohne ein Vorher und Nachher, ohne Angaben über Raum und Zeit.
Der Verhüllungs-Künstler Christo sagte einmal: „ In allen Epochen der Kunstgeschichte haben Stoffe und Gewebe die Künstler fasziniert. Die Struktur von Stoffen – Faltenwürfe, Plissees, Draperien – ist ein bedeutender Bestandteil von Gemälden, Fresken, Reliefs und Skulpturen aus Holz, Stein oder Bronze. […] Stoffbahnen – wie Kleidung oder Haut – haben etwas Zartes und Empfindliches; sie verdeutlichen die einzigartige Qualität des Vergänglichen.“ Diese von Christo betonte „Qualität des Vergänglichen“ ist es auch, die Alicja Kosmider-Feist
bei ihrem Tun antreibt. Denn ihre Bilder sind stumme Zeugen einer vergangenen Zeit, die uns über ihre Ästhetik emotional ansprechen und die in unseren Köpfen fehlende Körper, passende Geschichten und erweiterte Bilder konservieren und generieren. Das legendäre Bekenntnis des derzeit im Ravensburger Kunstmuseum ausgestellten Expressionisten Otto Müllers „Ich kann nur malen was ich liebe“ (bei ihm waren es die Frauen und die Natur) ließe sich, bezogen auf die Kunst von Alicja Kosmider-Feist, umschreiben in ihr Bekenntnis: „Ich kann nur malen, was ich LEBE.“